Highway der Tränen
Die dramatische Dokumentation über verschwundene und ermordete indigene Frauen in Kanada.
Jahrzehntelang sind indigene Frauen und Mädchen an der abgelegenen Strecke eines Highways im Nordwesten von British Columbia verschwunden oder ermordet aufgefunden worden. Dieser Korridor ist bekannt als der „Highway der Tränen“ - und wurde inzwischen das Symbol für eine nationale Krise.
Die Journalistin Jessica McDiarmid untersucht in ihrem Buch akribisch die verheerenden Auswirkungen, die diese Tragödien auf die Familien der Opfer und ihre Gemeinschaft haben. Sie zeigt auf, wie systemischer Rassismus und Gleichgültigkeit ein Klima geschaffen haben, durch das indigene Frauen und Mädchen verstärkt polizeilichen Repressalien ausgesetzt sind und gleichzeitig durch die gleichen Behörden keinen Schutz erfahren. McDiarmid hat dabei jene Angehörigen interviewt, die den Opfern am nächsten stehen – Mütter und Väter, Geschwister und Freunde- und liefert damit einen intimen Bericht aus erster Hand über deren Verlust und ihren unermüdlichen Kampf nach Gerechtigkeit. Sie untersucht die historisch gewachsenen sozialen und kulturellen Spannungen zwischen den Siedlern und indigenen Völkern in der Region und verknüpft diese Fälle mit weiteren, die in ganz Kanada geschehen sind – aktuelle Schätzungen gehen von rund 4000 vermissten oder ermordeten indigenen Frauen und Mädchen aus – und stellt sie damit in den Kontext einer breiten Untersuchung über die Geringschätzung von Indigenen in Kanada.
„Highway of Tears“ ist eine schonungslose Analyse des Versagens der Gesellschaft und eine Würdigung des ungebrochenen Bemühens der Familien und Gemeinschaften, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
„Diese Mordfälle veranschaulichen das ganze Ausmaß eines systemischen Problems: Indem McDiarmid jeden Mordfall im Kontext von indigener Identität und den besonderen Härten vor Ort untersucht, behandelt sie genau diese Probleme und verdeutlicht die Notwendigkeit, die tieferen Ursachen jeder einzelnen Gewalttat zu erforschen.“ The New York Times, Rezension
Rezension im Amerindian Research 2/2021
Der Untertitel spricht die Problematik klar an, welche die Autorin sich zu erörtern bemüht. Nur fehlt dort ein Hinweis darauf, dass sich dies auf die letzten 30 Jahre bezieht, also so aktuell ist und ein erschreckendes Bild der Gesellschaft, ihrer Konflikte und deren Bewältigung durch unterschiedliche soziale und ethnische Gruppen im äußersten Nordwesten Kanadas zeichnet. Die Autorin, die aus dieser Provinz British Columbia stammte und als Journalistin in verschiedenen Gegenden der Welt, so auch in Afrika, innergesellschaftliche Probleme vor allem um indigene Frauen beobachtet und in ihrer Arbeit reflektiert hatte, legt nun ihr erstes Buch vor. Mehr als fünf Jahre vielseitiges Studium der unterschiedlichsten Quellen, die sie zu den einzelnen Begebenheiten ausweist, haben sie befähigt, ein eindringliches Bild von Rassismus und Ge- walt im gegenwärtigen Kanada zu zeichnen. Sie will und kann auf jede Art Anonymisierung verzichten. Sie nennt die konkreten Fälle und die Akteure, soweit sie eben in- zwischen bekannt geworden sind. Dabei geht es ihr nicht allein um die erschreckend hohen Zahlen an Vermissten, um Missbräuche, Vergewaltigungen und Morde, sondern um die involvierten Menschen: die Opfer und ihre Familien und Freunde, auch um die Vertreter der Nichtregierungsorganisationen, die sie unterstützten, sowie die staatlichen Institutionen, vor allem die Polizei, welche teil- weise vor Mengen zu verfolgender Spuren überfordert waren, zum Teil aber auch wegen rassistischer und frauenfeindlicher Vorurteile halbherzig agierten und Chancen verspielt haben, die Verbrecher erfolgreich zu verfolgen und dingfest zu machen. Es geht um junge Mädchen und Frauen, die zu den noch in diesem Gebiet existierenden "First Nations" gehörten und an dem besagten Highway
16 verschwanden, der bei den Suchaktionen und Gedenkmärschen von Familienangehörigen und Sympathisanten den bezeichnenden Namen "Highway of Tears" erhalten hat, der die Trauer ausdrücken soll. Die Autorin hat einige der verschwundenen jungen Mädchen und Frauen aus der Vielzahl der Opfer ausgewählt und ihr Leben beschrieben, soweit es in der Gemeinschaft von Ort und ethnischer Gruppe bekannt gewesen ist. Es geht darum, sich und allen, die dies lesen, eindrücklich vor Augen zu führen, dass es immer um persönliche Schicksale gegangen ist, immer die Opfer und ihre Familien schweres Leid erfahren haben und dass wir uns bei den beschriebenen Ereignissen mit manchem ungelösten Fall in der unmittelbaren Gegenwart befinden. Es ist ausdrücklich kein Roman; doch finden sich wahrhaftig Züge von "Kriminalromanen" bei den beschriebenen wahrhaftigen Ereignissen. Es sind nicht die sehr interessanten statistischen Angaben zu Menschrechtsverletzungen wie Diskriminierung, Missbrauch, Vergewaltigung und Mord alleine; es sind die Einzelschicksale, die besonders deswegen so er- schrecken, weil keine überwundene historische Situation beschrieben wird, sondern Ereignisse des 21. Jahrhunderts und auch weit verbreitete Haltungen und Nachlässigkeiten in der Verfolgung von Vergehen, von denen man nicht annehmen darf, sie würden sich zukünftig von alleine überleben. Die heutige Realität, entstanden aus der patriarchalischen Haltung der dominanten kanadischen Gesellschaft gegenüber den Indigenen und noch dazu ge- genüber deren Frauen, verlangt solche Aufdeckung der Zusammenhänge, und zwar durchaus am einzelnen Frauenschicksal, wie die Autorin es getan hat. Dies ist ein erster Schritt im auch zukünftig noch notwendigen Kampf gegen die damit in Zusammenhang stehenden Verbrechen.
Das Buch ist spannend: es beschreibt die Einzelfälle und die Haltungen dazu; es bezieht aber auch klar Position, hat Gegenwartsbezug und fordert zu zukünftiger Stellungnahme heraus. UTS
Matilda Wilson stand auf einer Schotterstraße. Ein paar Dutzend Menschen bildeten an diesem Junitag 2012 einen Kreis um sie, während die Sonne hoch am Himmel stand. Die Menge hatte die Plakate, die sie ein paar Kilometer den Highway 16 entlang bis zum Anfang der Yellich Road getragen hatten, abgestellt, Pappschilder mit der Aufschrift „Erobert den Highway zurück“ und „Killer auf freiem Fuß!“ Schweigend beobachteten sie Matilda, wie sie gesenkten Hauptes dastand, während Autos, Lastwagen und Sattelschlepper vorbeidröhnten. Matildas ältestes Kind, Brenda, hielt eine Hand auf dem Rücken, während der Rauch von schwelendem Sweet Grass, Salbei und anderer traditioneller Medizin sich über ihr Gesicht legte und dann weiter westwärts Richtung Pazifik wehte. Schließlich hob Matilda den Blick und erklärte mit müden, tränenfeuchten Augen, dass sie sich glücklich schätzen könne, glücklich, dass die Ungewissheit ein Ende habe.
Sie wusste nun, dass ihr jüngstes Kind nie wieder nach Hause kommen würde.
Ramona Lisa Wilson kam im Bezirkskrankenhaus von Bulkley Valley in Smithers, British Columbia, auf die Welt. Die Stadt mit etwa 5.000 Einwohnern liegt auf halbem Weg zwischen Prince George und Prince Rupert. Es war ein trüber, kalter Wintertag; Nebel hüllte das weite Tal ein, in dem die Stadt liegt. Noch trostloser war das Krankenhaus, ein Betonklotz auf einer sanften Anhöhe zwischen dem Geschäftsviertel in der Innenstadt und dem Bulkley River. Aber Ramona war wie ein strahlendes Licht, noch bevor sie am 15. Februar 1978 auf die Welt kam.
Nachdem Matilda sieben Jahre zuvor ihr fünftes Kind zur Welt gebracht hatte, sagten die Ärzte ihr, sie könne nie wieder ein weiteres Kind bekommen. Das war eine Enttäuschung für Matildas Älteste, Brenda, gewesen, die sich als einziges Mädchen in der Familie verzweifelt eine kleine Schwester wünschte. Aber Matilda akzeptierte es. Im Sommer 1977 jedoch, als sie zum Arzt ging, weil sie dachte, sie hätte sich eine Grippe eingefangen, erfuhr sie, dass sie im zweiten Monat schwanger war. Matilda war fassungslos. „Vielleicht ist es ein Geschenk“, sagte sie zu Ramonas ebenso überraschtem Vater. Brenda sagte sie, sie solle für die kleine Schwester, die sie sich immer gewünscht hatte, beten.
Am 14. Februar 1978 setzten die ersten Wehen ein und Matilda lächelte bei dem Gedanken, dass ihr Baby am Valentinstag zur Welt kommen würde, doch es sollte noch bis fünf Uhr am nächsten Morgen dauern, bevor Matilda ins Krankenhaus fahren musste. Kurz darauf wurde Ramona geboren. Als die Krankenschwestern Matilda ihr Neugeborenes überreichten, streichelte sie ihr welliges Haar, küsste die winzigen Finger und die winzige Nase ihres Babys und bewunderte ihre Augen, die so hell waren, dass sie fast blau schienen, obwohl sie bald eine haselnussbraune Farbe annahmen. Matilda sagte zu Ramonas Vater: „Du solltest besser Brenda informieren. Geh ans Telefon und sag ihr, dass sie nun eine kleine Schwester hat.“ Es dauerte nicht lange, da stürzte schon die ganze Familie ins Zimmer, vorneweg Brenda.
Zu Hause kümmerte sich die Familie abwechselnd um Ramona, nahm sie in den Arm, fütterte und hegte sie. Mit Ramonas Ankunft veränderte sich das Leben im Haus, es wurde lauter und fröhlicher. Jedes Jahr an ihrem Geburtstag wurde eine große Party gefeiert. Während sie heranwuchs, vergötterten ihre Brüder sie, trugen sie, wohin sie wollte, und behandelten sie wie eine kleine Prinzessin. Brenda war inzwischen ausgezogen und dabei, ihre eigene Familie zu gründen. So waren es ihre Brüder, die Ramona zu ihren Partys mitnahmen und sich sogar die Haare von ihr schneiden ließen. Ramona war ein Wirbelwind. „Pass auf deinen Kopf auf!“, rief sie, bevor ihr Fuß am Ohr eines ihrer Brüder vorbeischnellte, als sie ihre Beweglichkeit unter Beweis stellen wollte. Sie hatte den ganzen Tag ein Lied auf den Lippen und sang es mit einer lieblichen, trällernden Stimme. Ausgelassenheit, Freude und Lachen folgten ihr auf Schritt und Tritt.