Skrälinge
Erschienen: Die Wikinger bedrohen eine Siedlung der Tuniit - in der Arktis. Erzählt von den Autoren Sean und Rachel Qitsualik-Tinsley.
In dieser abenteuerlichen Geschichte – die in der alten Arktis angesiedelt ist – stolpert ein Inuit-Jäger namens Kannujag unabsichtlich in ein feindliches Dorf und gerät dabei in große Gefahr. Bei den Bewohnern handelt es sich um Tuniit, ein Volk der Vorfahren, das für seine Stärke, aber auch seine Scheu bekannt ist. Nur selten haben Fremde sie überhaupt zu Gesicht bekommen. Diese Ruhe wird gestört, als mörderische, blasshäutige und bärtige Fremde in riesigen Booten in der Form von riesigen Prachttauchern an der Küste auftauchen. Ohne es zu wollen, wird Kannujag Zeuge eines Kampfes zwischen den Tuniit und einer Gruppe Wikinger. Während die Dorfbewohner sich für die Verteidigung ihres Dorfes rüsten, entdeckt der Junge, dass diese Wikinger nicht nur Krieg und Mord im Sinn haben …
„Skrälinge“ zeigt, was passiert, wenn zwei Kulturen aufeinanderprallen – und dies in der menschenfeindlichen Arktis, in der alle Parteien ums Überleben kämpfen. Ein Junge aus einer Gruppe von Robben- und Walrossjägern trifft auf ein Volk, das Rentiere jagt und wiederum von brutalen Wikingern angegriffen wird. Pfeil und Bogen trifft zum ersten Mal auf Stahl und Eisen! Ein Roman über das Erwachsenwerden und wie ein Junge sich in dieser feindlichen Umgebung bewähren muss – erzählt mit dem traditionellen Wissen und der ganz besonderen Magie der Inuit.
Rezension im Magazin für Amerikanistik 2/2020
Man kann sie mit Fug und Recht als „vergessene Völker“ ansehen – die Inuit, die Tuniit und andere menschliche Kulturen der Arktis, die in unserer Welt in der Regel pauschal als „Eskimo“ bezeichnet wer- den. Allein deren klimatischer Lebensraum wirkt auf viele heutige Menschen, die sich nach Sonne und Wärme sehnen, abstoßend. Wir Heutigen haben häufig den Blick für die Schönheit der Natur verloren, die nicht unseren Vorstellungen entspricht. Wir sind gefangen in unseren Normen und Strukturen, die uns ein Leben in einer immer enger werdenden Welt, die von Milliarden Menschen bevölkert ist, möglich machen,, die aber unsere Wahrnehmungen dämpfen. Unsere Welt würde ohne Regeln und Beschränkungen kollabieren. Das hat zu Abstumpfungen geführt.
So etwas kannte der Inuit-Jäger Kannujag nicht. So etwas konnte er sich nicht einmal vorstellen. Das hätte er vermutlich nicht einmal geglaubt. Er bewegte sich auf derselben Welt, auf der wir heute leben – und doch war sie so verschieden wie ein fremder Planet.
Der Inuit Kannujag ist verglichen mit uns wirklich „frei“ – frei in einem Maße, das für uns Heutige Utopie darstellt. Er erlebte eine Freiheit der Wahrnehmung, geistig, physisch, emotional, die uns wahrscheinlich sogar in Furcht und Schrecken versetzen würde. Eine Freiheit, die ein Mensch nur empfinden und fühlen kann, der wie Kannujag in einem Lebensraum aufgewachsen ist, der keine Grenzen kennt – aber auch keine Gnade, keine Rücksicht. Gnadenlos, rücksichtslos schön und monströs zugleich.
Das macht diese Geschichte so anziehend und fesselnd. Der Leser wird unwiderstehlich in eine Welt hineingezogen, die fremd und beängstigend, zugleich aber überwältigend und faszinierend erscheint. Kannujag stößt bei seinen Streif- und Jagdzügen auf ein feindliches Dorf der Tuniit, ein Volk der Vorfahren, das Fremde nur selten zu Gesicht bekommen hat. Deren idyllische Existenz wird von mörderischen, blasshäutigen, bärtigen Fremden in riesigen Booten zerbrochen, die vor der Küste auftauchen. Kannujag wird Zeuge eines Kampfes zwischen den Tuniit und einer Gruppe Wikinger. Während die Dorfbewohner sich für die Verteidigung ihres Dorfes rüsten, entdeckt der Junge, dass diese Wikinger nicht nur Krieg und Mord im Sinn haben.
In diesem Buch wird exemplarisch beschrieben was passiert, wenn zwei Kulturen aufeinanderprallen. Dies wird in der menschenfeindlichen Arktis, in der ohnehin alle Lebewesen tagtäglich ums Überleben kämpfen, zu einer extremen Erfahrung.
Pfeil und Bogen treffen auf Stahl und Eisen. Die Erde, die für die Menschen der Arktis nur „das Land“ ist, das weder Anfang noch Ende kennt, hat auf einmal unbekannte Grenzen. Ein junger Mann, der bis dahin nur die Härte und Gewalt der Elemente und der Natur kannte, lernt die Gewalt einer anderen Lebenswelt, einer anderen Kultur kennen. Den Autoren ist eine Geschichte gelungen, die einerseits kompakt, andererseits aber in einen grenzenlosen Horizont eingebettet ist. Die Sprache erscheint schlicht, aber sie ist von geradezu elementarer Wucht. Sie erzeugt eine magische Sehnsucht und Beklemmung, sie geht unter die Haut, sie geht in den Kopf und ins Herz. Der Übersetzer, Michael Schiffmann, hat mit traumwandlerischer Sicherheit die richtigen Worte gefunden, um nicht nur den reinen Text, sondern auch den Geist dieses Buches und die kreative Kraft der Autoren zu übertragen.
Dieses Buch hat eine Seele; derartige Bücher sind heute leider selten geworden. Das Buch ist weit mehr als nur eine abenteuerliche, unterhaltsame Geschichte aus einer lange versunkenen Welt, an die man sich erinnern sollte. Es ist eine Wanderung in einen anderen Kosmos, die Entdeckung kultureller Wurzeln.
Dietmar Kuegler
Rezension im Amerindian Research Band 15/2 (2020)
Rachel Qitsualik-Tinsley stammt von den Inuit ab, ihr Mann Sean ist gemischter Herkunft. Gemeinsam schrieben sie über einen Jäger der Inuit eine Erzählung, die zu der Zeit spielt, als die Wikinger in Amerika auf- tauchten. Die Geschichte wird aus der Sicht des Inuit geschrieben und gewinnt damit eine neue Dimension. Denn es wird dabei auch deutlich, wie sich die amerikanischen Ureinwohner gefühlt haben müssen, als sie plötzlich auf die ihnen völlig fremden Wesen mit unbe- kannten Waffen und mit großen Booten trafen.
So wird das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Kulturen sehr eindrucksvoll beschrieben, denn es läuft nicht friedlich ab. Die Wikinger überfallen ein Dorf der Tuniit und der Inuit kommt zufällig dazu und wird in die Auseinandersetzungen verwickelt.
Die spannende Geschichte wird von den Autoren in einem ganz eigenen Stil erzählt, der manches Mal etwas zu belehrend klingt und nicht unbedingt leicht zu lesen ist. Nach Ansicht des Rezensenten ist das Buch eher für Erwachsene als für Heranwachsende geeignet.
MK
Kannujaq hatte die Augen geschlossen und sog die reine Luft durch die Nase ein; die Stille war derart intensiv, dass er auch noch das kleinste Geräusch in der Welt rings um sich wahrnehmen konnte. Ein Rabe krächzte leise; er öffnete die Augen und sah auf einem moosüberwachsenen Felsen in der Nähe. Im Himmel über ihm wiegte sich ein weiterer Rabe. Er lächelte, weil er wusste, dass er die Vögel mit seiner Anwesenheit störte, und sein Blick strich über die Felsrücken, die sich vor ihm erstreckten. Auf den niedrigen Hügeln mischten sich verschiedene Schattierungen von Braun, etwas Violett und einige Tupfer von Dunkelgrün, die von Heidekraut und von höchstens kniehohen Weidensträuchern stammten. In den Senken, den niedrigen Tälern zwischen den Hügeln, gab es kaum genug Schnee für seinen Hundeschnitten. Inzwischen war er klatschnass geschwitzt. Seinen erschöpften Hunden hingen ihre langen Zungen zum Hals heraus.
Schließlich verschwand Kannujaqs Lächeln. Obwohl das LAND ihm noch selten Furcht eingejagt hatte, spürte er nun einen Schauer von Angst.
Auf den am weitesten entfernten Felskämmen erspähte Kannujaq hier und da inuksuit – Anhäufungen von flachen Steinen, die sorgfältig so aufeinandergeschichtet waren, dass sie, wenn man ihre Silhouetten gegen den Himmel betrachtete, Menschen ähnlich sahen. Und Kannujaq wusste, wer sie gemacht hatte. Sein Großvater hatte es ihm erzählt. Die inuksuit waren das Werk der Tuniit, eines scheuen und merkwürdigen Volkes, das das LAND, lange bevor Kannujaqs Familie dort angekommen war, bewohnt hatte. Angeblich waren die Tuniit außerordentlich stark. Einen Stein von der Größe Kannujaqs hochzuheben war für einen Tuniit gar nichts. Und das war gut so, weil die Tuniit zum Jagen Steine benutzten. Da die inuksuit aussahen, als seien sie auf Hügeln stehende Menschen, mieden die Rentiere sie auf ihren Wegen. Es hieß, dass die Tuniit sich, wenn die Rentiere jedes Jahr dort vorbeizogen, diese neuen Wege zunutze machten, um die Tiere an Orte zu treiben, wo sie sie töten konnten. Die Tuniit jagten genau wie Kannujaqs Leute mit Pfeil und Bogen. Kannujaqs Großvater hatte einen der Jagdgründe der Tuniit gesehen: dort waren überall Knochen aufeinandergeschichtet – einige neu, andere ziemlich alt. Es war klar, dass die Tuniit schon seit Generationen auf diese merkwürdige Art gejagt hatten.
Kannujaq runzelte die Stirn, dachte an die Geschichten seines Großvaters, und nicht einmal die Herrlichkeit des LANDES konnte seine Gedanken von den Tuniit ablenken. Er dachte über den Jagdstil der Tuniit nach. Dieser brachte mit sich, dass sie praktisch immer an ein und demselben Ort blieben, vielleicht sogar das ganze Jahr über. Für Kannujaq war das eine komische Vorstellung. Seine Leute waren immer unterwegs, erkundeten die Welt, weil sie Spaß daran hatten, und immer wieder trennten Familienmitglieder sich von den anderen, gründeten ihre eigenen kleinen Gruppen und brachen auf zu neuen Ufern. Seit Generationen waren das Umherreisen und die Lust auf Neues der große Antrieb für sein Volk gewesen. Ringelrobben. Herrliche Wale. Stinkende Walrösser. All die Geschöpfe des Meeresstrandes – sie lieferten Nahrung und Werkzeuge und befeuerten eine Suche, deren einziger Sinn das Leben selbst war. Das Leben war voller Freude; es war eine einzige große Jagd.